Donnerstag, 6. April 2017

Autopsie, Transplantation und jüdischer Glaube (1)

In Israel haben Ultraorthodoxe mit Gewalt gegen die Autopsie eines Mordopfers protestiert – ist die Leichenöffnung nach jüdischem Gesetz wirklich verboten?

Hunderte Haredim randalierten Anfang dieser Woche im Jerusalemer Stadtviertel Mea Schearim, in Kiryat Ata bei Haifa und im Süden von Tel Aviv. Sie blockierten Straßenkreuzungen, entzündeten Müllcontainer und Autoreifen, warfen Steine auf vorbeifahrende Autos und griffen Polizisten an.
Anlass der Ausschreitungen war der Streit um die Autopsie einer Frau, die der ultraorthodoxen Gemeinschaft angehörte. Die 89jährige Frida Wiesel war in ihrer Wohnung in Kirya Ata am Montagabend tot aufgefunden worden. Ein Gericht hatte die kriminalmedizinische Untersuchung der Leiche angeordnet, sie wurde im Institut für Gerichtsmedizin Abu Kabir durchgeführt. Die Mediziner stellten zweifelsfrei fest, dass die Frau Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist.


Die Autopsie war gegen den Willen ihrer Familie und gegen die religiösen Überzeugungen der ultraorthodoxen Gemeinschaft veranlasst worden. Grund für einige Haredim, auch in den Räumen des Instituts zu randalieren. Sie richteten erheblichen Schaden an, zerstörten Mikroskope und andere Einrichtungsgegenstände. Zudem verwüsteten sie auch das Büro des Institutsleiters und Chef‐Pathologen Yehuda Hiss.

Die israelische Öffentlichkeit verurteilte die gewalttätigen Ausschreitungen. Gleichzeitig rückte wieder einmal eine brisante Frage in den Mittelpunkt des Interesses: Darf nach jüdischem Gesetz eine Autopsie zugelassen werden?

Die jüdische Rechtsprechung ist in dieser Frage nicht eindeutig. Strenggläubige lehnen diese letzte medizinische Untersuchung eines menschlichen Körpers strikt ab, weil die Ehre eines Toten zu wahren ist und der Körper durch die Obduktion entstellt werden könnte. Zudem könnte durch die Untersuchung die Beerdigung hinausgezögert werden.

Der jüdischen Tradition zufolge muss der Körper eines verstorbenen Menschen unverzüglich beigesetzt werden. Im 5. Buch Moses 21,23 heißt es: „Am selben Tage noch sollst du ihn begraben.“ Aber diese Regel hat Ausnahmen. Zum Beispiel verweist der Talmud (Sanhedrin 46 b) darauf, dass es erlaubt ist, eine Beisetzung auf den nächsten Tag zu verschieben, wenn man Trauernde aus anderen Städten versammelt, Klagefrauen herbeiholen oder noch für „Sarg und Totenhemd“ sorgen will.

An anderer Stelle (Baba Batra 155a) geht es im Talmud direkt um die Frage der Untersuchung eines Leichnams. In dieser Geschichte wird jemand erwähnt, der in Bnei Brak das Vermögen seines Vaters verkaufte und daraufhin starb. Familienangehörige erhoben Einspruch gegen das Geschäft, da der Verkäufer bei seinem Tod noch minderjährig gewesen sei. „Da kamen sie zu Rabbi Akiba und fragten ihn, ob man ihn untersuchen dürfe, und er erwiderte ihnen: Ihr dürft ihn nicht schänden.“

➽ Die Vorschriften für den Umgang mit dem Toten basieren auf dem Prinzip des Kibbud HaMet, der Ehre und dem Respekt, die auch einem leblosen Menschen gebühren. Rabbiner Chajim Halevy Donin schreibt in seinem Buch Jüdisches Leben, dass es zum Beispiel verboten ist, Tote im offenen Sarg zur Schau zu stellen, sie einzubalsamieren oder zu verbrennen. Autopsien wurden in den vergangenen Jahrhunderten mit rabbinischen Entscheidungen durchweg untersagt, wegen der Entweihung der Verstorbenen, so Rabbiner Donin. „Es wurden jedoch Ausnahmen gestattet, wenn Aussicht bestand, durch die Autopsie konkret das Leben eines Kranken zu retten.“ (Anm.: Ob solche Ausnahmen nach jüdischen Recht korrekt wahren, ist sehr anzuzweifeln!) 

Rabbiner Yaacow Ruja hat täglich mit solchen Ausnahmen zu tun. Er ist der Vertreter des Oberrabbinats beim Israelischen Institut für forensische Medizin, in dem derzeit etwa 2.500 Menschen jährlich obduziert werden. Zudem ist er auch Vorsitzender des Rabbinerrates von ZAKA, der israelischen Freiwilligenorganisation, die sich der Bergung und Identifizierung von Terror‐ und Unfallopfern widmet. Rabbiner Ruja sagte der Jüdischen Allgemeinen: „Routinemäßige Autopsien lehnt das Judentum ab. Aber es gibt Ausnahmen, die Untersuchungen von Toten erlauben. Dabei sind bestimmte Voraussetzungen ganz genau zu beachten.“ Zum Beispiel ist in Fällen erblicher Krankheiten eine Leichenöffnung erlaubt, wenn es gilt, überlebende Verwandte zu retten. Auch wenn Frauen zum wiederholten Mal ihr Kind verloren haben, kann ein Fötus zur Ermittlung der Ursache untersucht werden. „Bei jeder Autopsie ist jedoch zu beachten“, so Rabbiner Ruja, „dass die Eingriffe so gering wie möglich sein sollten. Es sollten möglichst nur kleine Proben für die pathologische Untersuchung entnommen werden. Und alle aus dem Körper entfernten Organe und Gewebe sind dem Leichnam zurückzuzugeben, um sie beerdigen zu können.“

Das griechische Wort Autopsie bedeutet sinngemäß „etwas mit eigenen Augen sehen“. Es geht dabei um eine innere Leichenschau, zur Feststellung der Todesursache und des Sterbevorgangs.
In der Bundesrepublik Deutschland werden etwa fünf Prozent aller Toten obduziert. Neben medizinischen Gründen gibt es rechtliche Gründe für eine Leichenöffnung. Wenn der Verdacht eines unnatürlichen Todes vorliegt, kann ein Amtsgericht oder die Staatsanwaltschaft eine Obduktion anordnen. Dies wird auch gegen jüdisches Recht durchgesetzt. „Ich habe bereits mehrfach versucht, in Einzelfällen Einspruch dagegen einzulegen, aber ohne Erfolg“, berichtet Berlins orthodoxer Gemeinderabbiner Yitshak Ehrenberg. Auch auf den halachischen Grundsatz, dass die Zustimmung von Familienmitgliedern des Toten zur Obduktion vorliegen muss, kann keine Rücksicht genommen werden. „Ein großer Teil der Tötungsdelikte geschieht im Freundes‐ oder Familienkreis. Da wäre es problematisch, wenn dem Einspruch potentieller Täter gefolgt werden würde“, erläutert Stefan Pollack von der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin.

So müssen sich Rabbiner dem talmudischen Grundsatz (Nedarim 28a) beugen: „Das Recht des Landes ist das gültige Recht.“ Diese Regel gilt auch in Israel. „Eine gerichtlich angeordnete Obduktion muss durchgeführt werden“, bestätigt Yaacow Ruja. Es entspreche auch der Halacha, wenn zum Beispiel das Ergebnis der Obduktion dazu beiträgt, einem Mörder seine Tat nachzuweisen und ihm so seiner Strafe zuzuführen.

Im Fall des Mordes an der 89jährigen Frau aus Kirya Ata war die Autopsie von einem israelischen Gericht angeordnet worden. „Insofern handelt es sich nicht um eine fehlerhafte Handlung der Pathologen“, betont Rabbiner Ruja. Die Proteste will er nicht kommentieren. Auch das Israelische Institut für Forensische Medizin will keine offizielle Stellungnahme dazu abgeben. Gleichwohl war dort zu erfahren, dass es als Reaktion auf die Ereignisse ein Treffen von Rabbinern mit Vertretern von ZAKA und der Institutsleitung gab. Man sei übereingekommen, zukünftig noch sensibler mit der Frage umzugehen, wenn Menschen aus dem strenggläubigen Umfeld betroffen sind. In jedem Fall soll nun vor einer Obduktion mit den Angehörigen und den Rabbinern ein Gespräch stattfinden.
Quelle ©: Jüdischen Allgemeinen, Detlef David Kauschke